Der Wahrheit verpflichtet

Meine Berufung verpflichtet mich zur Wahrheit.

Im Nachfolgenden will ich darlegen, wie diese Aussage zu verstehen ist, wie ich dazu komme und wie ich sie begründen kann. Wenn immer möglich sollen objektive Argumente und nicht subjektive Gründe vorgebracht werden. Also, zur Sache oder zur Wahrheit bzw. der Berufung.

Jeder meint zu wissen, was „Wahrheit“ bedeutet, jedenfalls haben sich die Philosophen über Jahrtausende mit den unterschiedlichsten Definitionen hervorgetan. Aristoteles hat folgende Aussage gemacht:

„Zu sagen nämlich, das Seiende sei nicht oder das Nicht-Seiende sei, ist falsch, dagegen zu sagen, das Seiende sei und das Nichtseiende sei nicht, ist wahr. ..“


1.Allgemeine Gründe, die Wahrheit zu sagen

Es gibt viele Gründe, die Wahrheit zu sagen.

So kann die eigene Weltanschauung einem veranlassen, bei der Wahrheit zu bleiben.

Sehr wichtig sind auch die Nachteile oder Strafandrohungen, die Bürger dazu veranlassen, nicht zu lügen. Ich denke dabei z.B. an folgende gesetzliche Bestimmungen:

„Art. Art. 217 StG

Vollendete Steuerhinterziehung

1 Mit Busse wird bestraft, 

a. wer als steuerpflichtige Person vorsätzlich oder fahrlässig bewirkt, dass eine Veranlagung zu Unrecht unterbleibt oder dass eine rechtskräftige Veranlagung unvollständig ist,

b. wer als zum Steuerabzug an der Quelle verpflichtete Person vorsätzlich oder fahrlässig einen Steuerabzug nicht oder nicht vollständig vornimmt,

c. wer vorsätzlich oder fahrlässig eine unrechtmässige Rückerstattung oder einen ungerechtfertigten Erlass erwirkt.

2 Die Busse beträgt in der Regel das Einfache der hinterzogenen Steuer. Sie kann bei leichtem Verschulden bis auf einen Drittel ermässigt, bei schwerem Verschulden bis auf das Dreifache erhöht werden.

3  Zeigt die steuerpflichtige Person die Steuerhinterziehung selber an, bevor sie der Steuerbehörde bekannt ist, so wird die Busse bis auf einen Fünftel der hinterzogenen Steuer ermässigt“.


 „Art. 307 StGB

1 Wer in einem gerichtlichen Verfahren als Zeuge, Sachverständiger,

Übersetzer oder Dolmetscher zur Sache falsch aussagt, einen falschen

Befund oder ein falsches Gutachten abgibt oder falsch übersetzt, wird

mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.

2 Werden die Aussage, der Befund, das Gutachten oder die Übersetzung

mit einem Eid oder mit einem Handgelübde bekräftigt, so ist die

Strafe Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe nicht unter

180 Tagessätzen.250

3 Bezieht sich die falsche Äusserung auf Tatsachen, die für die richterliche

Entscheidung unerheblich sind, so ist die Strafe Geldstrafe bis zu

180 Tagessätzen.251“


Zu denken ist weiter an die gesellschaftliche Stellung: Wer nicht die Wahrheit sagt wird vielleicht zum Aussenseiter.


2. Allgemeine Gründe, die Wahrheit nicht zu sagen

Hier ist namentlich zu denken an Situationen, bei denen sich jemand einen Vorteil verspricht - finanziell, stellungsmässig etc.-  und den Eintritt möglicher Nachteile als nicht wahrscheinlich erachtet.

Zu dieser Kategorie gehören auch die sogenannten Halbwahrheiten oder Notlügen.


3. Meine Berufung

Ich bin davon überzeugt, dass der Notariatsberuf für mich auch Berufung ist. Die Faszination, die von der Redaktion eines komplizierten Vertrages ausgeht, mag vielen nicht so ganz verständlich erscheinen. Die Aussage, dass ein solches Vertragswerk vergleichbar ist  z.B. mit einer Skulptur kann vielleicht irritieren. Die Befriedigung des Verfassers ist aber eben gleich wie die des Bildhauers.

Ebenso eine vornehme Aufgabe  ist es, den Klienten zu guten Lösungen zu verhelfen. 

Ueberhaupt ist der Kontakt mit den Menschen, die Schlichtung von Konflikten wie die Besänftigung verkrachter Erben oder Nachbarn immer eine Genugtuung.

Der Notar ist eine Person des öffentlichen Glaubens. Seine Urkunden geniessen eine erhöhte Beweiskraft : Gemäss Art. 9 ZGB erbringen sie vollen Beweis, solange nicht die Unrichtigkeit ihres Inhaltes nachgewiesen ist.

Folgerichtig wird für Notare neben den fachlichen Voraussetzungen auch eine hohe Integrität verlangt. Bernische Notare üben ihren Beruf unabhängig und auf eigene Verantwortung aus. Bestimmte Tätigkeiten wie z.B. die Liegenschaftsvermittlung gegen ein Erfolgshonorar sind untersagt.

Nicht immer einfach ist der Umgang mit dem Berufsgeheimnis. Es ist natürlich eine Selbstverständlichkeit, die im Rahmen der Tätigkeit erfahrenen Sachumstände geheim zu halten. Gegenüber Dritten ist das auch kein Problem. Gegenüber der Ehefrau kann das aber schon zu Kommunikationshindernissen führen. Die Berufung zum mitteilsamen Ehemann steht im Zielkonflikt zur Berufung als Notar.


4. Berufung und Wahrheit

Das Notariatsgesetz verpflichtet den Notar zur Wahrheit, er muss Willenserklärungen und Tatsachen beurkunden, die er selbst vorschriftsgemäss wahrgenommen hat.

Dies ist eigentlich klar, wenn man sich die erhöhte Beweiskraft von Urkunden vor Augen hält.

Warum sage ich aber die Wahrheit, oder schreibe sie oder zelebriere sie auch manchmal? Weil das Notariatsgesetz dies so vorschreibt? Weil ich Angst hätte vor allfälligen Nachteilen oder Strafen?

Nein, ich sage und schreibe die Wahrheit weil der Notariatsberuf meine Berufung ist.

Ich stehe gerne zur Wahrheit, nehme manchmal auch finanzielle oder andere Nachteile in Kauf. Besonders ernst nehme ich die vornehme Aufgabe, andere Leute auch dazu zu bringen, die Wahrheit zu sagen.

Vielleicht ist meine Berufung ja gar nicht nur der Notariatsberuf. Vielleicht ist meine eigentliche Berufung, die Wahrheit zu sagen, wahrhaftig zu sein und andere Menschen solches zu lehren.

Jedenfalls lebe ich Wahrheit auch ausserhalb meines Büros, privat und in der Gesellschaft. Mein Antrieb, die Wahrheit zu sagen, ist eigentlich meine Selbstachtung. Wenn ich nicht wahrhaftig wäre, könnte ich mich nicht mehr am Morgen im Spiegel sehen (das ist manchmal sogar bei Wahrhaftigkeit nicht immer leicht). 

Manchmal braucht es Mut, die Wahrheit zu sagen. Eigentlich braucht es mehr Mut, sie nicht zu sagen.

Bin ich wahrheitsliebend? Das auch, aber ich brauche Sie in meinem Leben als dauernden Antrieb, als Voraussetzung für Befriedigung in Beruf.

Aber was schreibe ich eigentlich alles, ohne zu wissen, was „Wahrheit“ ist.

Ich spüre, im Zweifelsfall, was Wahrheit ist. Im Gegensatz zu den Philosophen versteige ich mich nicht zu einer Definition. Ich glaube daran, dass ich richtig spüre. Die Wahrheit ist meine Berufung, behaupte ich. Ich glaube, ich habe Recht.

Einziger und wichtiger Vorbehalt: Nur einer durfte bis heute behaupten, er sei das Leben und die Wahrheit und das Licht. Die Wahrheit in völlig absoluter Form ist ein Ziel. Man kann sich diesem Ziel nähern, ich versuche das.


5. Transfer

Zu den vornehmsten Aufgaben, die sich mir stellen, gehört sicherlich die Weitergabe meiner Beziehung zur Wahrheit.  Zu denken ist zu allererst an meine Kinder, aber dann auch an andere Personen wie z. B. eine Lehrtochter oder andere Menschen, mit denen  ich in einer Beziehung stehe.

Aber  wie gibt man den Wahrheitsbezug weiter? Androhung von Nachteilen oder gar Strafen? Wohl kaum. Weitergabe von weltanschaulichen Grundsätzen? Das sicher, aber nicht nur. Vorleben in aller Konsequenz ist zweifellos das Allerwichtigste. Und das Bewusstsein vermitteln, welche Wichtigkeit  der Bezug zur Wahrheit für die eigene Selbstachtung hat.

Ich habe das Vorrecht, meine jüngste Tochter auch noch als Lehrtochter in meinem Büro zu haben. Ich werde versuchen, dass sie einen Bezug zur Wahrheit bekommt, der vielleicht einmal auch Berufung ist. Nein, ich werde das nicht nur versuchen, es wird mir gelingen. Sie bringt die Voraussetzungen mit. Ihre Berufung wird sie zur Wahrheit verpflichten.



Oberhofen, Ende Juni  2010

Christoph Wirz